Unser Körper muss das Essen, das wir ihm zuführen, verdauen. Viele komplexe Funktionen im Körper sind dafür zuständig, die Nährstoffe, Ballaststoffe, Vitamine, Zucker und all das andere zu verarbeiten. Schon bei Neugeborenen ist dieses Thema essenziell und als Eltern wird sehr darauf geachtet, wie reibungslos – oder eben nicht – das abläuft und wie hier geholfen werden kann oder muss.
Was meist viel zu kurz kommt, ist das Verdauen und Verarbeiten von seelischen Vorgängen. Alles, was wir erleben, macht etwas mit uns. Alles hinterlässt ein Echo, und was auch immer passiert, es wird nie wieder so sein „wie früher“. Zunehmend tritt die Traumatherapie in den Vordergrund, die somatische Therapie mit dem eindrücklichen Bild: „Your issues are in your tissues.“ Deine Themen / Probleme sind in deinem Gewebe, in deinem Körper. Jedoch muss es gar nicht um kleines oder großes Trauma gehen, es geht genauso um die alltäglichen Erfahrungen.
Sich gefühlt fühlen
Kinder müssen sich gefühlt fühlen, so Bindungsexperte und Neuropsychologe Daniel J.Siegel. Ungeachtet dessen, ob die Erwachsenen ein Problem als „wichtig“ oder eines Heulkrampfes „wert“ erachten, was zählt ist allein die Erfahrung für das Kind. Das Eis, das herunterfällt, ist für viele einfach Pech und halb so schlimm, „das passiert einfach“. Für das Kind ist das gefühlt eine mittlere Katastrophe. Je mehr die Erwachsenen ehrlich Mit-Gefühl haben und äußern, desto besser lernt das Kind: meine Gefühle werden gesehen, gefühlt und ernst genommen. Und jetzt kümmern wir uns um eine Lösung. Die emotionale Verarbeitung ist essenziell, um frei zu sein für eine kognitive Bearbeitung. Wenn Gefühle nicht auf einen empfänglichen Grund fallen, dann steckt das Kind fest, gibt vielleicht klein bei, schluckt seine Bestürzung hinunter und zeigt nach außen Gleichgültigkeit oder Tapferkeit, innen aber tobt oft ein Kampf: das, was ich fühle, darf ich nicht zeigen. Das, was ich fühle, scheint nicht angemessen zu sein. Ich muss verstecken, was wirklich in mir vorgeht.
Wenn dieser Prozess regelmäßig abläuft, dann lernt der Mensch: unangenehme Gefühle sind falsch, oft unangebracht und anderen nicht zuzumuten. Freude und Dankbarkeit zu zeigen hingegen wird belohnt und gefeiert, bei allem anderen sollte man bitteschön „nicht so übertreiben“ oder am besten gar nicht zeigen.
Der Druck wird immer größer
Wenn wir das Pech haben, diese Situationen immer und immer wieder erlebt zu haben, dann haben wir nie gelernt, Emotionen zu fühlen und wirklich zu verarbeiten. Wenn wir dann erwachsen sind, dann ist dieser Druck, nach außen ein bestimmtes Bild zu vermitteln und eben „erwachsen“ und vernünftig zu sein, noch größer. Es gibt vielerorts einen derart engen Rahmen, dass wir uns nun auch selbst nie erlauben, Erfahrungen zu verarbeiten und innerlich zu verdauen. Es geht hier nicht nur um die schwierigen Erlebnisse wie Unfälle, Krankheiten, Verlust von Arbeit oder liebgewonnenen Lebewesen oder auch aufwühlende Nachrichten. Es geht genauso um die Verarbeitung von freudvollen oder erhabenen Ereignissen. Oftmals bleibt die Erfahrung auf der kognitiven Ebene und es entfährt uns vielleicht ein „Oh, wie schön!“ oder „Das freut mich aber!“. Wie oft aber nehmen wir uns Zeit, etwas wirklich zu er-leben, mit dem ganzen Körper, die Emotionen zu spüren, die Resonanz zu spüren, die Wärme, das Prickeln, die Tränen, die Ehrfurcht, die Angst, die Ohnmacht, die Enge im Brustkorb, die Leichtigkeit im Oberkörper, die Kurzatmigkeit, die Trauer, die Verbundenheit wirklich zu spüren und damit zu verdauen? Nach innen zu schauen und zu reflektieren: Was macht das mit mir? Wie stehe ich dazu? Was hat sich verändert? Gibt es jetzt Konsequenzen für meine zukünftigen Handlungen?
Kennst du das auch, dass du immer wieder an einen Punkt kommst – besonders deutlich oft kurz vor dem Urlaub oder vor einer Auszeit – an welchem du das Gefühl hast, ich kann jetzt nicht noch mehr schlechte Nachrichten ertragen, nicht noch mehr Druck aushalten? Jetzt bin ich aber wirklich urlaubsreif! Das geschieht, wenn wir uns im Alltag nicht die Zeit und die Erlaubnis geben, unsere Erfahrungen, die angenehmen wie die schwierigen, zu verdauen und zu verarbeiten. Dann häufen wir Erlebnisse an, wir beißen die Zähne zusammen, weil wir „jetzt einfach keine Zeit“ dafür haben. Der Druck wird immer größer, wie in einem Dampfkessel, und eigentlich spüren wir, dass der Deckel schon wackelt, aber wir drücken einfach mit aller Kraft drauf und reißen uns zusammen. Denn natürlich können wir nicht ausflippen, unseren Frust herauslassen. Wir haben einfach viel zu lange geschluckt, als dass es jetzt geordnet losgelassen werden könnte.
Was gärt noch in dir?
„Wenn wir uns nicht die Zeit dafür (gemeint ist für das Verdauen, Anm. von Berenice Boxler) geben, gären viele Dinge unterschwellig vor sich hin und führen dazu, dass wir für neue Eindrücke nicht richtig offen und aufnahmefähig sind. Noch gravierender ist jedoch die Wirkung, dass wir ohne angemessene Verdauungsprozesse seelisch nausgeglichen sind.“
schreibt Richard Stiegler in seinem Buch Nach innen lauschen (arbor Verlag, 2. Auflage 2015). Es geht hier um Psychohygiene, die uns genauso wichtig sein sollte wie Zahn- oder Schlafhygiene.
Was damit gemeint ist:
Regelmäßig innehalten, spazieren gehen und die Seele baumeln lassen, einen Tapetenwechsel und Neues ausprobieren, sich mit anderen austauschen und eine Zweitmeinung einholen, Tagebuch schreiben – was auch immer hilft, um Ereignisse zu erzählen, zu reflektieren, zu verarbeiten.
Welche Themen oder Situationen gären zurzeit noch in dir?
Widme dich deinem Leben und deinen Erfahrungen darin regelmäßig, damit der Druck in der wertvollen Ferien- oder Ruhezeit nicht so groß ist und du einfach nur Ferien oder eine Auszeit machen kannst.