Der Körper und seine Empfindungen sind die erste Grundlage der Achtsamkeit. Mit und durch den Körper erleben wir die Welt. Unser Sehsinn ist enorm prominent, die Ohren sind auch ständig auf und die Haut ist immer auf Empfang. Dann haben wir noch das Riechen – wenn wir nicht gerade Schnupfen haben – und das Schmecken. Als sechster Sinn wird oft die Körperwahrnehmung von innen bezeichnet, die sogenannte Interozeption. Diesen Sinn können wir erleben, wenn wir die Augen schließen und beispielsweise eine Hand bewegen. Kann ich von innen spüren, welche Position die Hand im Raum und in Bezug auf meinen Körper hat? Ob die Handfläche nach oben oder nach unten zeigt? Ob die Finger gespreizt sind oder sich berühren? Das können wir wahrnehmen, ohne es sehen zu können.
Negativitätstendenz
Wie so vieles in unserer Wahrnehmung, so ist auch der Körper Objekt unserer im Gehirn eingebauten Negativitätstendenz. Oftmals gehen wir einfach durch den Tag und nehmen den Körper nicht bewusst wahr, aber dann grummelt der Magen und signalisiert: „Ich könnte bald wieder etwas vertragen!“ Oder der Bauch verkrampft sich etwas, weil gerade zu viel Zeitdruck entsteht. Oder am Ende des Tages schmerzen die Schultern oder das Genick. Abends werden wir müde, die Augen fallen uns zu. Immer dann, wenn etwas „nicht stimmt“, bemerken wir den Körper. Wobei natürlich auch das schon eine Bewertung ist: der Körper hat in unserer Idealvorstellung zu funktionieren, was wir gleichsetzen mit „nicht schmerzen“, nicht negativ auffallen, nicht verkrampfen oder verstopfen. Er „funktioniert“ bedeutet: wir spüren ihn nicht oder kaum. Dann können wir uns so schön auf unseren Geist fokussieren und all die wichtige Arbeit erledigen, die auf unserer To-Do-Liste steht. Abends vielleicht seufzen wir erleichtert oder genießen ein kühles Getränk oder einen Tee, spüren, wie der Körper sich auf dem Sofa niederlässt und ruhen darf. Während des Tages aber haben wir meist keine Zeit für ihn und seine Wehwehchen.
Wenn der Körper nicht mehr funktioniert, wie er sollte
Solange wir jung und mehr oder weniger fit sind, gehen wir auf diese Weise gut durchs Leben. Es gibt aber Ereignisse, die stellen unsere Beziehung zum Körper auf die Probe. Vielleicht erhalten wir eine Krebsdiagnose oder entwickeln eine Autoimmunkrankheit. Vielleicht stimmt etwas nicht mit den Augen oder der Fuß erholt sich nach einem eigentlich leichten Unfall nicht mehr ganz und es entsteht Narbengewebe. Oder die Haut oder der Magen reagieren urplötzlich auf Dinge und wir machen uns auf die zuweilen langwierige Suche nach Allergenen. Es gibt noch so viele weitere Symptome und Krankheiten, die sich körperlich zeigen und unser Leben beeinträchtigen.
In einem solchen Fall kann es sein, dass der Körper und sein Befinden allmählich mehr und mehr Raum einnehmen in unserem Alltag und der Fokus sich verengt auf die morgendliche Frage: „Und was macht mir heute das Leben schwer?“ Auf die gut gemeinte Frage „Wie geht es dir?“ von Freunden und Bekannten lässt es sich kaum antworten. Es gibt Phasen im Leben, da fühlt sich die Antwort „Eigentlich ganz gut.“ wie ein Verrat am eigenen System an, denn „gut“ gibt es schon lange nicht mehr. Aber genauso falsch fühlt es sich an, jedes Mal zu antworten: „Naja, das tut weh, und hier habe ich Schwierigkeiten, und ich habe wieder mal nicht viel geschlafen…“. Es gibt keine richtige Antwort mehr.
Angenehm – unangenehm – neutral
Die Achtsamkeitspraxis macht genau das zumThema: bemerken, wie wir jegliche Erfahrung einordnen in „angenehm“, „unangenehm“ und „neutral“. Wenn es uns körperlich nicht gut geht, dann – wir erinnern uns an die Negativitätstendenz vom Beginn – geschieht es leicht, dass der Fokus sich verengt und wir nur wahrnehmen, was NICHT funktioniert, was sich NICHT gut anfühlt, was wir uns wirklich anders wünschen würden. Mit diesem Fokus ist die Abwärtsspirale vorprogrammiert, denn den körperlichen Symptomen folgt die Bewertung und die negative Verengung der Gedanken, daraufhin folgen entsprechende Emotionen wie Angst, Traurigkeit, Genervtheit, Frustration. Daraus kann mit der Zeit eine Grundstimmung werden, die das ganze Leben einfärbt. Dann ist wirklich nichts mehr „gut“, und es wird immer schwieriger für uns. Es gibt verschiedene Übungen und Ansätze aus der Achtsamkeits- und Mitgefühlspraxis, die hier helfen können.* Das grundlegende Verständnis ist aber folgendes: Ich bin nicht mein Körper. Ich habe einen Körper, und der fühlt sich gerade so an, die Beine sind schwer, der Rücken pulsiert von Schmerz, der Ausschlag juckt, oder was auch immer gerade die Erfahrung ist. Ich kann aber gleichzeitig erkennen, wie schnell eine übermäßige Identifikation mit dem Körper und seinem Leiden alles andere mit hinunterziehen kann. Aber kann ich nicht trotzdem das schöne Buffet im Hotel etwas genießen, auch wenn ich Kopfweh habe? Kann ich nicht dennoch herzhaft lachen über einen guten Witz, auch wenn gleichzeitig die Beine nicht so wollen wie ich? Ich sage nicht, dass es einfach ist. Es ist manchmal sogar richtig schwer, das körperliche Befinden nicht zur Grundlage des allgemeinen Wohlbefindens zu machen. Denn natürlich ist der Körper, mit welchem wir überhaupt das Leben erleben, ein ganz essenzieller Teil unseres Erlebens. Und eine schmerzhafte oder unangenehme Empfindung lenkt die Aufmerksamkeit automatisch auf sich.
Ich bin mehr als mein Körper
Es kann aber helfen, sich immer wieder aufs Neue zu erinnern: Ich bin nicht mein Körper. Oder präziser: Ich bin nicht nur mein Körper, mein Unwohlsein oder mein Schmerz. Ich habe einen Körper, und der macht mir das Leben anstrengend. Und es gibt noch viele andere Aspekte des Lebens, die nichts mit dem Körper zu tun haben. Kann ich mich daran erinnern, die Aufmerksamkeit immer wieder – zumindest für ein paar Momente – darauf zu lenken? Das Leben besteht aus unzähligen einzelnen Momenten. Jeder Moment, in welchem wir bewusst die Aufmerksamkeit auf etwas legen, das uns gut tut oder das angenehm ist, ist ein Gewinn und tut dem ganzen System gut (auch wenn es nicht immer physisch spürbar ist). Das aber müssen wir bewusst machen, denn im Autopilot wandert unsere Aufmerksamkeit von Reiz zu Reiz, und ein Schmerzreiz übertrumpft schnell alle anderen Reize. Dann bleiben wir hängen beim Körper und bei dem, was schwierig ist. Spüre mal hinein in deinen Körper und nimm wahr, was im Vordergrund steht. Und dann richte deine Aufmerksamkeit bewusst auf etwas anderes, etwas angenehmeres oder zumindest neutrales. Das ist der Weg, den wir immer wieder einschlagen können.
* An dieser Stelle ein Hinweis auf das überaus wertvolle Buch von Christiane Wolf: Achtsamkeit und Selbstmitgefühl bei chronischen Schmerzen, Verlag: Schattauer/Klett-Cotta, 2024