Auf dem Fluss des Lebens

September 2025
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Manchmal wirbelt das Leben den Alltag ganz schön durcheinander. Früher oder später wird es ein Ereignis geben, das den Alltagstrott durchbricht. Obwohl der Alltag sich meist nicht wie Trott anfühlt, so können wir doch Monate und Jahre wie in einem Boot auf einem Fluss schwimmen, der mehr oder weniger seinen Lauf hält, nur hier und da kommen ein paar Kurven, die das Boot leicht schwanken lassen. Und dann plötzlich taucht ein Wasserfall wie aus dem Nichts auf und wir werden mitgerissen. Alle bis dahin empfundene Kontrolle und Selbstbestimmung lösen sich in Windeseile auf und wir stürzen hinab in die tosenden Wassermassen.

Sich wieder fangen

Auch wenn es verschieden große Wasserfälle gibt, eines bleibt gleich: danach müssen wir erst das Gleichgewicht wiederfinden, um das Ruder wieder neu auszurichten und weiterfahren zu können. Je größer und wilder der Wasserfall und der dadurch bedingte Sturz war, desto länger kann es dauern, wieder in die Bahn zu kommen. Manchmal passiert es, dass wir so durchnässt und verwirrt sind, dass wir eine ganze Zeitlang gar nicht mehr klar sehen können oder das Boot sogar gekentert oder stark beschädigt ist. Dann können wir uns nur mit Hilfe an Land retten, es gibt einfach kein Zurück aus eigener Kraft. Sich helfen zu lassen ist kein Zeichen von Schwäche, es erfordert im Gegenteil viel Mut und Selbstbewusstsein und eine klare Erkenntnis: ich schaffe es nicht alleine.

Meistens aber können wir weiterfahren, der Sturz hat uns aber zumindest ordentlich durchgeschüttelt, durchnässt und aus dem Trott gerissen. Dann sind wir hellwach und müssen zunächst einmal feststellen: bin ich verletzt? Aber auch wenn äußerlich nur ein paar Schrammen und nasse Haare zu sehen sind, so dürfen wir das innere System nicht aus den Augen verlieren. Wie bei einer Schneekugel dauert es manchmal ganz schön lange, bis das Innere zur Ruhe gekommen ist, auch wenn die Schneekugel schon seit Minuten still auf dem Tisch steht.

Was wollen diese ganzen Metaphern verdeutlichen?

Das Leben wirbelt uns manchmal ganz schön durch. Krankheit, Unfälle, Todesfälle, Trennungen, Arbeitsverlust – es gibt viele große und größere Wasserfälle, deren Existenz uns zwar bekannt ist, aber irgendwie meinen wir oft, wir könnten sie vermeiden, wenn wir nur gut genug aufpassen, das Boot in gutem Zustand halten und das Steuer kontrollieren würden. Aber das Leben lässt sich nicht kontrollieren. Zu jedem Leben gehören Stürze. Die große Frage ist: Wie gehe ich damit um? Wie stehe ich danach auf? Wie geht es danach weiter? Kann ich das alleine oder brauche ich Hilfe? Manche Stürze hinterlassen tiefe Narben, manche Verletzungen heilen nie, und manche Körper kommen nie wieder zur Ruhe und fahren versehrt weiter. Auch das nennt sich Leben. Die Stürze vergessen können wir ohnehin nicht, sie sind jetzt ein Teil von uns. Der Trick bei dem Ganzen ist, die Landschaft nicht aus den Augen zu verlieren und sich nicht allzu verbissen auf die Fahrt und auf den eigenen Zustand zu konzentrieren. Nicht hängenzubleiben an dem „warum?“ und „wer war schuld?“, an dem „ich will wieder zurück!“ und „wie hätte ich das verhindern können?!“ Leben kann man nur vorwärts, der Fluss fließt weiter, das Leben geht weiter, und wir tragen das Echo dessen, was passiert ist, mit uns – ob wir wollen oder nicht. Leben passiert, und ganz vieles haben wir nicht unter Kontrolle. Es braucht Mut und Flexibilität, das Abenteuer Leben zu meistern. Und eigentlich bleibt uns ja auch keine andere Wahl als mitzufahren.  

Und die anderen?

Wir Menschen sind sehr visuelle Wesen, daher beeindrucken uns Bilder und Videos mehr als Worte. Auf unserer Reise erreichen uns viele Darstellungen von anderen Menschen, die aber jedes für sich nur ein Standbild ist oder ein winziger Ausschnitt aus der ganzen Fahrt. Wir versenden und erhalten nur die Bilder, die Sonnenschein und Lächeln zeigen, nur leichte Wellen und trockene Kleidung, Miteinander und Inspiration. Den verzweifelten Kampf unter Wasser, den bekommen nur die wenigsten mitgeteilt. Leider vergessen wir immer wieder, wie sehr auch die anderen kämpfen mit den gleichen Untiefen und ähnlichen Strömungen. In unserer Sehnsucht nach mehr Ruhe sehen wir nur das, was wir sehen möchten: „Oh ja, es gibt ein einfacheres Leben! Wenn ich nur x und y mache, wie diese Person, dann gelingt mir das auch! Ich muss mich nur etwas mehr anstrengen oder noch mehr lernen!“ Dabei ist kein Fluss für immer ruhig. Zur Lebendigkeit gehört, dass es immer wieder auch wild und unkontrolliert wird. Das bedeutet es, Mensch zusein.

Meine Erfahrungen der vergangenen Monate haben mich vor allem eines gelehrt: es geht nur vorwärts. Und alles ist ständig in Bewegung, alles ist wortwörtlich „im Fluss“. Natürlich lernen wir aus Erfahrungen und Fehlern, gehen gestärkt aus Herausforderungen hervor, tragen unsere Narben mit, die sich mit der Zeit ihrerseits verändern. Aber das Leben geht weiter, immer weiter. Ich versuche nach vielen Stürzen der jüngsten Vergangenheit mein eigenes Boot gut zu versorgen und immer wieder zu schauen, wo ich gerade bin und wer noch in Reichweite ist. Immer noch durchgerüttelt und nass, sehe ich mich um. Diese Landschaft, die sich gerade wieder ganz langsam herbstlich verfärbt: ist sie nicht wunderschön?

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