Ich sitze auf dem Balkon eines Hotelzimmers und schaue auf den nahen Hang. In der Ferne bimmeln Kuhglocken, Autoreifen fahren über nasse Straßen. Es regnet ganz sanft, nur sichtbar, wenn man in Richtung der dunkelgrünen Nadelbäume schaut. Die Luft ist frisch aber angenehm warm. Trotz der konstanten Hintergrundgeräusche liegt eine Stille über der Szenerie.
Wir alle wissen es: in der Natur zu sein zu gut. Die Natur zu sehen tut gut. Sich in der Natur zu bewegen tut gut. Und doch machen wir es oft zu wenig. „Keine Zeit“, der Alltag ist zu voll und durchorganisiert. Im Alltagsleben übernehmen der Kopf und das Organisieren, das Erinnern und das Analysieren. Wenn dann endlich einmal Urlaub ist, dann meldet sich der Körper und wir können spüren: es tut gut. Plötzlich merken wir, wie alles etwas zur Ruhe kommt, langsam aber stetig. Ob in den Bergen oder am Meer, auf dem Campingplatz oder in einer schönen Stadt – egal, wo man ist, man nimmt anderes wahr und das hat eine Auswirkung auf Seele und Geist.
Weg von zu Hause
Viele werden immer wieder spazieren gehen oder mit dem Fahrrad eine Tour machen. Das ist wunderbar! Und doch liegt etwas beinahe Magisches über der Zeit, die wir weg von zu Hause verbringen. Egal wie bewusst oder präsent wir im Alltag sind, vieles wird zwangsläufig zum Automatismus, auch die Freizeitbeschäftigung. So ist das menschliche Gehirn einfach gestrickt und das hat auch seinen Sinn. Und dann fährt man weg – auch wenn es „nur“ auf den Campingplatz im Nachbar(bundes)land geht – und die Sinne schärfen sich. Wir sind nun zum wiederholten Male in diesem Hotel und in dieser Gegend, und das satte Grün der Wiesen überwältigt mich jedes Jahr aufs Neue. Die Weitsicht von einem Gipfel ist erneut atemberaubend, und selbst die Wespen scheinen hier etwas weniger gehetzt und unter Strom zu sein als zu Hause: sie fliegen umher, beschnüffeln alles und fliegen dann weiter, ohne sich wie ausgehungert in Gläser oder Eisbecher zu verirren. Die Kühe am Wegesrand scheren sich nicht darum, dass gerade eine Gruppe Teenager mit gezückten Handys und Schimpftiraden auf die Betreuerin („Was finden die Erwachsenen nur am Wandern?! Ich kann nicht mehr!“) schnaufend an ihnen vorbeilaufen. Sie stehen und liegen da in ihrem wunderschönen weiß-grau und schwarz und leben ihr Leben. Die vorbeiziehenden Wolken werfen Schatten auf die Berge gegenüber, und jedes Jahr freue ich mich auf ein Neues über die Silberdisteln.
Die Augen öffnen und sehen – aber sehen wir wirklich das Leben?
Dieses Leben, die Natur, der Himmel, die Bäume, das Geröll und auch alles Menschengemachte im Haus und draußen, all das ist so voller Farben und Lebendigkeit. Diese vermeintliche Selbstverständlichkeit, mit der die meisten Menschen morgens aufwachen, die Augen aufmachen und eine Welt in Farbe sehen, sollte immer wieder der Ausgangspunkt von einem tiefen „Danke“ sein. Ja, das Leben ist schwer, immer wieder. Es gibt physische und emotionale Schmerzen, unveränderbare Schwierigkeiten und Phasen der großen Angst und Unsicherheit. Das Leben ist kein einfaches, und die Beschaffenheit unseres Gehirns bewirkt, dass wir schnell in einen Tunnelblick geraten und in ein mentales „Nein, ich will das nicht!“ oder in die Genervtheit oder auch in einen heftigen inneren Kampf mit dem Leben und seinen Menschen darin. Dann nehmen wir gar nicht mehr wahr, wo wir eigentlich sind und was um uns herum ist. Die eingebaute Negativitätstendenz übernimmt und wir sehen – im übertragenen Sinne – nur noch schwarz oder mindestens grau, alles andere wird nicht mehr wahrgenommen.
Es klingt so einfach, zu einfach vielleicht, aber genau darum geht es: sich immer wieder daran zu erinnern, dass es noch so viel mehr gibt als den nahenden Schulbeginn, das angekündigte Mitarbeitergespräch, das schwierige Projekt oder die ewige Fahrerei zum Fußball-Training und zurück. Allzu schnell lenken wir uns ab mit dem Handy oder anderen Beschäftigungen. Dabei vergessen wir, dass das zwar wie eine kurze Pause wirkt, dem Kopf aber tatsächlich keine Erholung gibt.
Was kann man mitnehmen?
Was auch immer man aus dem Urlaub mitnimmt – Fotos, ein Dekorationsstück, ein Gewürz oder ein Armband und natürlich Erinnerungen – nur ein Teil davon lässt sich in das Alltagsleben hinüberretten. Was nicht dauerhaft behalten werden kann, das ist das Gefühl von Erholung, von Ruhe. Morgens aufzuwachen und nicht unter Druck zu stehen und die To-Do-Liste im Kopf zu haben. Oder das Gefühl, in die Berge oder auf das Meer zu sehen und eine tiefe innere Ruhe zu verspüren. Wir erhoffen uns zwar immer, dass wir das möglichst lange bewahren können, das klappt aber meist nicht. Das echte Gefühl hinübernehmen können wir nicht, da Gefühle genauso wie Körperempfindungen immer hier und jetzt sind. Wir können aber die Erinnerung an das Gefühl mitnehmen, die Erinnerung an die gefühlte Ruhe, die Erinnerung an die Erfahrung und damit dann auch die Erinnerung an das, was uns guttut. Und ja, die Achtsamkeitspraxis lädt dazu ein, das Handy immer wieder in der Tasche zu lassen und mentale Bilder zu machen. Dennoch helfen gerade Fotos sehr dabei, sich wieder hineinzuversetzen in die Szenerie und die Erinnerung wiederaufleben zu lassen.
Mein Tipp für den anstehenden Herbst: die Augen öffnen und Farben sehen. Farben sehen in ihrer ganzen Vielfalt und sich erinnern lassen. Grün, braun, gelb, blau, weiß, rot, und alles dazwischen und durcheinander. Farben sehen und sich erinnern lassen: Jetzt bin ich hier. Und jetzt atme ich ein und aus. Wie geht es mir gerade? Was ist jetzt als nächstes zu tun? Kann ich das mit etwas mehr Ruhe und Sorgfalt tun? Kann ich die farbigen Trikots der Jungen sehen, die ich gerade zum Training fahre? Kann ich die Farbe des Stiftes wahrnehmen, der den Essensplan notiert? Falls dann Gedanken des Bedauerns kommen („Ich wäre jetzt viel lieber im Urlaub, das war so schön dort!“), auch dann hilft die Erinnerung: Jetzt bin ich hier. Nicht in den Vergleich gehen sondern stattdessen schauen, was es hier Angenehmes oder zumindest Neutrales zu entdecken gibt. Und Farben sind hier erneut ganz wunderbare Hilfsmittel. Grün ist einfach grün. Rot ist einfach rot. Und das Silber der Computer-Oberfläche ist ein leicht glänzendes Silber. Ist es nicht phantastisch, wie bunt diese Welt ist? Die Natur und all das andere? Was siehst du gerade? Und vergiss nicht, bewusst auszuatmen. Immer wieder.