Der Forscher- oder Anfängergeist ist eine der wertvollsten Qualitäten der Achtsamkeit und zugleich eine der einfachsten und der schwersten Übungen für den Alltag. Vielfach gehört, mit Hilfe der „Rosinenübung“ ausprobiert oder anhand anderer Erinnerungen wieder ins Gedächtnis gerufen – der Anfängergeist ist besonders in der gegenwärtigen Jahreszeit eine wunderbare Praxis.
Geschichte in jedem Augenblick
Die Adventszeit ist so getränkt mit Geschichten und Erinnerungen, mit Erwartungen und Hoffnungen. Heute in einer kurzen Runde unter Kolleg*innen hörte ich den Satz: „Ich freue mich auf nächste Woche, da gehen wir gemeinsam auf den Weihnachtsmarkt.“ Vorfreude ist etwas sehr Schönes, und gleichzeitig schwingt hier die Erinnerung mit an das vergangene Jahr: es war ein sehr schöner gemeinsamer Abend. Es gibt feste Daten – der 6.12., der 24.12., die Adventssonntage – welche mit sich ganz viel Inhalt tragen. Es gibt das jährliche Lichterfest, Plätzchen oder Stollen backen, Weihnachtsgipferl und natürlich der Adventskalender. Erwartungen haben, Vorfreude empfinden, alles das ist zutiefst menschlich und schön.
Sich der ganzen Geschichten, Erwartungen und Emotionen bewusst zu sein, auch das ist eine Achtsamkeitspraxis. Alles ist so, wie es ist, und alles hat eine Geschichte. Wir sind die Person, die wir sind, mit allen Momenten und Erfahrungen aus der Kindheit, aus der Jugendzeit, aus der frühen Erwachsenenzeit, aus allen Phasen des Lebens. Und trotzdem ist jeder Moment vollkommen neu. Jeder Moment und jede Erfahrung erleben wir zum allerersten Mal, egal wie bekannt oder langweilig oder gewohnt es uns vorkommen mag. Wenn wir uns dessen ab und zu erinnern können und wirklich zulassen: „jetzt war noch nie“, dann können wir ihn anwenden, den Forschergeist. Die Frage wirklich stellen: „Wie ist es jetzt?“ Was kann ich sehen? Was kann ich fühlen? Was kann ich riechen? Was kann ich hören? Was kann ich im Körper spüren? Der Anfängergeist lässt sich auf alles anwenden, er ist aber hauptsächlich auf das direkte Erleben mit unseren Sinnen ausgerichtet. Auf das, was jetzt gerade physisch da ist. Gleich essen wir zu Abend, es gibt heute Brot, Kirschtomaten, Aufschnitt, Salzbutter, dazu stilles Wasser. Schon unzählige Male stand genau das auf dem Essensplan, wir sind es alle etwas leid. Und doch kann ich mich heute erinnern: jetzt war noch nie. Wie schmeckt es heute? Wie riecht es? Was tut mir gut und was nicht?
Wie ist es jetzt?
Jetzt ist es ein Tag später. Das Erleben des gestrigen Abendessens ist ... Vergangenheit. Den Anfängergeist zu benutzen bedeutet nicht, dass etwas unheimlich viel Bedeutung bekommen müsste oder nachhaltige Wirkung entfalten. Es ist wie so vieles eine Momentaufnahme. Ein Erleben des gegenwärtigen Moments. Und dann weitermachen mit dem Leben. Jetzt gerade habe ich mir einen Kaffee gemacht. Wie schmeckt er gerade? Wie ist die Temperatur? Und die Kerze, die ich gleich anzünde: wie riecht das Wachs, der Docht, wie zeigt sich die Flamme? Der Anfängergeist ist nichts, was wir nonstop machen müssen oder gar können. So vieles im Alltag ist Routine und wird nebenher erledigt. Der Anfängergeist ist aber immer wieder eine Einladung, innezuhalten und genauer hinzusehen. Denn das Leben, das ist jetzt. Nur jetzt. Wenn wir nicht immer wieder mal genau jetzt leben, dann verpassen wir das Leben. Und das ist das einzige Leben, das wir haben. Immer dann, wenn wir dran denken, können wir genauer hinsehen und neugierig sein. Das, was ich jetzt gerade höre, mache, rieche, schmecke, wie ist das? Wenn ich mir vorstelle, ich hätte das noch nie erlebt, getan, gegessen – was kann ich wahrnehmen?
Vielleicht mit einer kindlichen Freude und Neugierde entdecken, was dieses Ding gerade wirklich ist, das die großen Menschen „Kuchen“ und „Zahnpasta“ nennen. Oder "Weihnachten". Wie fühlt es sich an, dieses "Weihnachten"? Jetzt gerade, am vierten Advent und am 24., 25., 26. Dezember. Es geht nicht um die Daten, es geht um das, was dann gerade da ist.
Um ein Zitat von Cicely Saunders abzuwandeln:
"Es geht nicht darum, dem Leben mehr Momente und damit mehr Zeit zu geben, sondern den Momenten mehr Leben."



