Vor einiger Zeit war ich auf einem Retreat in Norddeutschland. Ein Retreat ist ein meist mehrtägiger Aufenthalt in einem Seminarhaus, in welchem Menschen zusammenkommen, die gemeinsam unter Anleitung eines erfahrenen Lehrers Achtsamkeit (oder ähnliches) und Meditation praktizieren möchten. Unter besonderen Bedingungen – man wird bekocht, es wird geschwiegen, es gibt keine Handys oder Bücher – kann man sich ganz auf die Reise nach innen machen und frei von äußeren Erwartungen und Berieselungen der Sinne das Sein und die Meditation üben.
Wenn … dann… – ein Leben für die Zukunft
Zu Beginn eben dieses Retreats sagte der Lehrer, man solle „mit dem Echo des Lebens sein“. Denn so sehr man sich auch wünscht, der Geist würde zur Ruhe kommen oder der Körper sich endlich entspannen, es dauert oft eine ganze Weile, bis man den Alltagsstress abstreifen kann. Der Mensch ist so darauf geeicht, für die Zukunft zu leben: noch eine Woche bis zu den Ferien, noch ein paar Tage bis zum Wochenende, nur noch zwei Tage Regen, dann wird es endlich besser. Der Kopf wünscht sich ständig weg von dem „hier und jetzt“ in eine vermeintlich bessere Zukunft. „Wenn… dann“ – das Prinzip ist bekannt. Und es ist berüchtigt, denn es ist eine Illusion, dass die Zukunft besser sein wird. Die Zukunft ist ohnehin nur im Kopf – sobald sie da ist, ist es die Gegenwart, und die ist ja bekanntlich nie gut genug.
Seit einigen Tagen beschäftigt mich mein Körper, der sich entschieden hat, besonders laut und schmerzhaft mitzuteilen, dass er vernachlässigt wurde. Und da er besonders tief Luft geholt hat, schreit er nach 10 Tagen immer noch… „Mit dem Echo des Lebens sein“, das bedeutet nichts anderes, als den gegenwärtigen Zustand meines Seins nicht als Bestrafung, Störung oder Schwierigkeit anzusehen. Es bedeutet nichts mehr und nichts weniger als anzuerkennen, dass alles, was wir tun (oder nicht tun), eine Auswirkung hat. Das Leben besteht aus unzähligen Augenblicken, und wenn wir uns nicht um die einzelnen Augenblicke kümmern, dann rinnt uns das Leben durch die Finger. Dann verpassen wir die Chance, rechtzeitig Schluss zu machen mit dem Arbeiten. Dann verpassen wir die Chance, nach einem anstrengenden Tag früh zu Bett zu gehen (anstatt den müden Kopf mit oft sinnlosem TV-Zappen zu „belohnen“), um uns auszuruhen. Dann verpassen wir die Chance, dem tobenden Kind das zu sagen, was es meist wirklich braucht in seiner Not: „Ich bin da.“
„Jetzt nicht, später“ – aber wann ist später?
Dieses floskelhafte „jetzt nicht, später“ wird schnell zum Standard. Und sobald wir im Urlaub sind, das Retreat beginnen, den Kopf zum Schlafen niederlegen oder uns endlich Zeit zum Essen nehmen, dann erwarten wir, dass der Körper bzw. der Kopf jetzt auch bitte schön dieses kurze Zeitfenster nutzen möge. Runterkommen, abschalten, entspannen. Und zwar direkt! Aber so funktioniert der Organismus einfach nicht. Man kann sich das so vorstellen, als würde man non-stop mit 130 km/h über die Autobahn rasen und erwarten, dass das Auto jederzeit mit einer Vollbremsung elegant und ohne Schäden für Gefährt und Insassen zum Stehen kommen kann. „Mit dem Echo des Lebens sein“ bedeutet aber, dass wir zunächst den Fuß vom Gaspedal nehmen und erst nach und nach bremsen, alles andere funktioniert einfach nicht, ohne Schäden zu hinterlassen.
Es spielt keine Rolle, wie lange man schon Achtsamkeit praktiziert, es ist nie fertig. Das ist normal, denn das Leben ist ja noch nicht fertig. Wer weiß, was morgen kommt? Wer weiß, mit welchem Körpergefühl ich morgen aufwache? Ja, ich kann planen und vorsorgen. Aber viel wichtiger als das Schauen in die Zukunft ist das Hineinhorchen in die Gegenwart. Wie Jon Kabat-Zinn sagt: „Wir kümmern uns am besten um die Zukunft, indem wir uns um die Gegenwart kümmern.“ Und wenn ich mich bewusst um meine Gegenwart kümmere, dann werde ich auch besser mit dem Echo umgehen können, welches mein jetziges Tun auf mein morgiges Leben wirft. „Jetzt nicht, später“ ist also ein Trugschluss, der gar nicht funktionieren kann. Jetzt ist wichtig, nur jetzt. Denn nur jetzt findet das Leben statt.