Nicht-Urteilen

December 2017
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Jon Kabat-Zinn, der Begründer des Programms „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (MBSR = mindfulness-based stress reduction), hat neun Aspekte als Kern der Achtsamkeitspraxis herausgestellt. Wenn wir diese Qualitäten üben und sie dadurch in uns kultivieren, dann kann es uns dabei helfen, ein achtsames und waches Leben zu führen, ein Leben im Hier und Jetzt und mit allem, was dazu gehört: Höhen und Tiefen und die Mitte.

Diese Qualitäten lassen sich auf alle Gegebenheiten des menschlichen Alltags anwenden. Dabei gibt es kein Ziel, keinen Endpunkt. Es geht nicht darum, diese neun Aspekte zu lernen, sie auf einer Liste abzuhaken und dann für immer ein glückliches Leben zu führen. Das ist nicht möglich, denn die Beschaffenheit unseres Gehirns und unseres Lebens ist derartig, dass wir tagtäglich wachsen, lernen, hinfallen und neu beginnen können.

Jeder Augenblick ist neu, jede Situation ist anders, und die Aufgabe besteht darin, eben diesen einen jetzigen Augenblick so zu nehmen, wie er ist – mit einem offenen Herzen und mit einem liebevollen und achtsamen Blick.

Die neun Aspekte können uns also ein wertvoller Halt für ein Leben in Achtsamkeit sein.

Erster Aspekt: Nicht-Urteilen / Nicht-Bewerten

Achtsamkeit ist die „Bewusstheit, die sich dadurch einstellt, dass man mit Absicht und ohne zu werten aufmerksam bei der sich in jedem Moment entfaltenden Erfahrung ist.“ (Jon Kabat-Zinn)

Ohne zu werten – das bedeutet, dass wir alles, was in und um uns herum geschieht, nicht sofort bewerten, in Schubladen stecken oder in „gut“, „schlecht“, etc. einteilen sollten.

Nur in einer offenen Haltung und mit einem offenen Blick ist es möglich, wirklich wahrzunehmen, was da gerade präsent ist in unserem Leben. Jede Wertung verzerrt das Bild, legt ihm einen Filter über. Das klingt nachvollziehbar und einfach: Ohne Filter ist das Bild rein und unverfälscht, eben einfach so, wie es ist.

Doch wir bewerten ständig: „Das ist total ungemütlich draußen mit dem Wind und dem Nieselregen!“ oder „Der Kuchen ist total lecker, davon hätte ich gerne ein zweites Stück.“ oder auch „Das sieht hier aber schmuddelig aus! So sähe es bei mir zu Hause niemals aus.“ und so weiter. Unser Gehirn bewertet immer und überall, es kritisiert, lobt und ordnet ein. Das ist normal, so funktionieren wir einfach. In früheren Zeiten war diese Fähigkeit, Situationen und Menschen schnell in Gefahr oder Freund einzuschätzen, oftmals überlebenswichtig. Alles zu bewerten bedeutet also einfach, dass wir Menschen sind und ein menschliches Gehirn besitzen.

Bewerten kann man nicht abstellen

Achtsamkeit verlangt demnach nicht, dass wir das Bewerten abstellen, denn das ist nicht möglich. Achtsamkeit lehrt uns aber, unsere ständige Tendenz zur Bewertung zu bemerken und uns dann bewusst davon freizumachen. So entsteht eine Wahlmöglichkeit, ob wir unserer inneren – bewertenden – Stimme glauben möchten oder aber erkennen: „Das ist ein Gedanke. Das ist eine Bewertung.“ Je mehr wir das Nicht-Urteilen üben, umso offener und freier werden wir, die Dinge und Menschen erst einmal so sein zu lassen, wie sie sind. Ohne Filter, ohne Kategorie, einfach nur das bloße Sein.

Dieses Nicht-Bewerten zu üben kann eine äußerst bereichernde und spannende Tätigkeit sein. Wahrscheinlich werden wir immer wieder in den automatischen Modus verfallen und diese höhere Ebene vergessen, die uns erlaubt, uns beim Denken zuzusehen. Mit einiger Übung jedoch – und viel Geduld und Milde, wenn wir wieder abschweifen – kann es gelingen, uns immer öfter dabei zu ertappen, dass wir unsere altbekannten Schubladen wieder bemühen. Dies kann ein sehr befreiender und aufschlussreicher Vorgang sein, der uns jedes Mal ein Stückchen näher an die Realität bringt, so wie sie eigentlich vor unseren Augen ist: „Draußen regnet und windet es in diesem Moment.“

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